Es war einmal ein Müller, dessen wunderschöne Tochter langsam erwachsen wurde...
Eines Morgens ging der Müller über den Hof auf die Windmühle zu, um seiner Arbeit nachzugehen. Er war etwas spät dran, weil es mit seiner Tochter
eine Auseinandersetzung gegeben hatte. Er runzelte seine Stirn, schnaubte wütend, stampfte mit seinem Fuß auf und schrie: "Nie macht einer das,
was ich sage. Sie bleibt zuhause! Schluss, aus, Basta!"
Als er durch die große Holztür in das Innere der Mühle trat, wehte ihm ein Luftzug entgegen, der ihn ein wenig abkühlte.
Die knarzenden Geräusche des alten Gemäuers waren ihm vertraut und gaben ihm ein zunehmend beruhigendes Gefühl.
"Wenigstens darauf kann man sich verlassen", brummte er.
Er stieg die ausgetretene Holztreppe hinauf in den obersten Teil der Windmühle.
Er stellte einen Hebel um, hob den Arm und zählte: "Eins, Zwei, Drei, Rummmssss!"
Schon bald fing der große Mahlstein an, sich schleifend und rumpelnd zu drehen und versetzte die Mühle in leichte Schwingung.
Die alten Holzbalken setzten knarrend in das Mühlenlied ein.
Der Müller strahlte und seufzte zufrieden: "Genauso muss es klingen!"
Rhythmisch tappte er die Treppenstufen hinunter und sang dabei: "Flügel dreht euch, Flügel dreht euch, Mühle mahle, Mühle mahle, hmm, hm, hmm hm..."
"Du hast auch schon besser gesungen", hörte der Müller plötzlich eine Stimme sagen.
Verblüfft hielt er inne und schaute umher.
Die Stimme überschlug sich: "Was sollen denn meine Kinder denken? Sie schlüpfen jetzt bald und hören dann als erstes solch ein Katzengejammer",
begleitet wurde dieser Vorwurf von einem Geräusch,
das sich anhörte, als ob ein Vogel mit seinen Flügeln flatterte. "Gib dir mal Mühe, du - du lausiger Müller du!"
Er guckte nach oben und sah auf einem dicken Querbalken einen Spatzen mit ausgebreiteten Flügeln sitzen.
Aus dem weit aufgerissenen Schnabel krächzte lautes Gezeter.
Der Müller schaute ihn ungläubig an: "Hast du mit mir gesprochen?"
Der Spatz schrie aus Leibeskräften: "Ja natürlich. Einer muss es dir ja mal sagen!"
Der Müller starrte den Spatz an: "Warum verstehe ich dich?"
In dem Moment schlug unten eine Tür zu, der Spatz flog erschreckt aus dem Fenster und der Müller beeilte sich,
die Treppe hinabzusteigen, um die Tür fest zu verschließen.
Da stürmte seine Tochter in die Mühle. Sie rief aufgeregt: "Vater, bitte, bitte lass mich heute Abend auf das Fest gehen.
Ich werde auch brav und vorsichtig sein."
Der Müller konnte den bettelnden Augen seiner Tochter letztendlich nicht widerstehen und erlaubte ihr nun doch,
mit ihrer Freundin auf die Feier im Nachbarort zu gehen.
Allerdings traute er seiner Tochter und ihren Beteuerungen nicht ganz. Er erinnerte sich daran, wie er selbst in dem Alter gewesen war:
wild, ungestüm und er hatte immer eine für Eltern und Lehrer gemäßigte Version der Geschehnisse parat gehabt.
Darum überlegte er angestrengt, wie er es anstellen könne, die Tochter heimlich zu beobachten.
Dadurch passierte es, dass er das falsche Korn in den Mahlgang schüttete und das Malheur erst beim Zubinden des Sackes bemerkte.
Das Mehl war nicht weiß, sondern grau. Verflixt, dachte er, das würde ihm niemand abkaufen.
Wütend trat er gegen den Sack. Dieser zerriss und das ganze Mehl fiel auf den Fußboden. Zu allem Unglück kam ein plötzlicher Windstoß
und verteilte das Mehl in der Mühle und auf den Müller. Der war es durch seine Arbeit zwar gewohnt, überall an seiner Kleidung und
im Gesicht Mehl zu haben, aber jetzt sah er wirklich aus wie ein Mühlengespenst. Er schimpfte:
"So ein Mist! Was ist das denn heute bloß? Hat sich denn alles gegen mich verschworen?"
"Tja, es gibt so Tage...", rief eine entrüstete Stimme. Der Müller schaute hoch und sah auf dem Treppengeländer einen weißen
Spatzen sitzen, der verzweifelt versuchte, sich den feinen Mehlstaub aus den Federn zu schlagen.
"Hättest besser aufpassen sollen", zeterte der Spatz, "Du bist aber auch ein Tollpatsch!" Er flatterte hin und her,
was bewirkte, dass er eine weiße Mehlwolke hinter sich herzog.
"Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Andauernd machst du Blödsinn!" Der Spatz guckte ihn wütend an.
Da kam der Müller auf die zündende Idee! Der Spatz sollte seiner Tochter hinterher fliegen und ihm dann berichten,
was sie machte und mit wem sie etwas machte. Es wurde eine harte Verhandlung, aber man einigte sich letztlich.
Der Müller versprach dem Spatzen, für seine Detektivdienste die dicksten Mehlwürmer zu sammeln und ihm täglich frisches Wasser hinzustellen.
Das ging eine ganze Weile gut. Laut der Berichte des Spatzen, verhielt sich die
Müllerstochter offenbar brav und machte ihrem Vater keine Schande. Der Vater war zufrieden
Bald schon schlüpften die Spatzenkinder, weshalb der Spatzenvater natürlich nicht mehr so viel Zeit hatte,
seine Spionageflüge zu machen. Da ihm aber der Müller mehr Würmer gab und sogar eine Wanne mit Wasser zum Baden hinstellte,
konnte er doch einige Überwachungsflüge tätigen, ohne seine Familie zu vernachlässigen.
Eines Tages jedoch berichtete der Spatz etwas, wodurch herauskam, dass die Tochter des Müllers gelogen hatte.
Sie hatte sich statt mit einer Freundin mit einem Jungen getroffen.
Trotz mehrfach bohrender Nachfrage des enttäuschten Vaters blieb die Tochter bei ihrer Version, die Freundin getroffen zu haben.
Der Vater glaubte ihr natürlich nicht, aber er konnte ihr ihre Lüge auch nicht beweisen. Ein sprechender Spatz schien wenig
glaubwürdig, zumal der nur in der Gegenwart des Müllers menschlich sprach.
Ärgerlich beschimpfte der Müller den Spatzen und er gab ihm vor lauter Wut keinen Lohn. Der Spatz reagierte ebenso böse,
weil dadurch seine Familie hungern musste. Da er aber selber Vater war, verstand er die Aufregung über die Tochter und
ließ es dem Müller dieses Mal durchgehen.
Als es aber wieder passierte, seine Kinder vor Hunger schrien und er auch noch Ärger mit seiner Frau bekam, die ihn
vorwurfsvoll gefragt hatte, wo er sich denn herumtrieb, anstatt Futter für die Familie zu suchen, forderte der Spatz den
Müller energisch auf: "Gib mir meinen Lohn, Müller. Ich habe meine Arbeit getan."
"Du hast mir nicht die richtigen Nachrichten gebracht", antwortete der Müller unwirsch.
"Ich sollte dir berichten, was ich sehe und höre. Das war die Vereinbarung. Das habe ich gemacht", die Stimme des Spatzen wurde bedrohlich.
"Ich will das aber nicht hören", rief der Müller.
"Dein Problem!", kreischte der Spatz, "Ich will meinen verdienten Lohn."
Er schlug mit seinen Flügeln auf das Treppengeländer, so dass es durch die ganze Mühle hallte.
Der Müller ließ sich jedoch nicht beeinflussen und sagte hochnäsig: "Ich verkaufe die Würmer lieber den Anglern"
Der Spatz pochte lauthals auf sein Recht: "Gib mir meinen Lohn, sonst kannst du was erleben!"
Der Müller zuckte nur verächtlich mit den Schultern und ging missmutig seiner Arbeit nach.
Als er am nächsten Morgen von seinem Haus zur Mühle schlurfte, bot sich ihm ein gespenstiger Anblick. Auf der Windmühle saßen Hunderte von
Krähen, die ihn regungslos anstierten. Irritiert ging er in die Mühle hinein. Dort saßen Tausende von Spatzen und wie auf Kommando zeterten
alle gleichzeitig los.
Der Müller schrie ängstlich: "Was wollt ihr von mir?"
Plötzlich war Stille und eine ihm bekannte Spatzen-Stimme schrie: "Meinen Lohn. Gib mir meinen Lohn!"
Die Spatzen flatterten im Takt und draußen krächzten die Krähen lauthals im Rhythmus mit.
Der Müller rannte verschreckt zurück zum Wohnhaus, holte seine Tochter und zeigte auf die Vogelschar.
"Das ist, weil du gelogen hast, Tochter! Darum schittern sie mir jetzt die Mühle voll und beschimpfen mich."
Die Tochter fragte erstaunt: "Wie bitte, was habe ich damit zu tun?"
Kleinlaut erzählte der Müller nun von seiner Vereinbarung mit dem Spatzen und dass er ihm vor Enttäuschung über sieden Lohn nicht gezahlt hätte.
Die Tochter erschrak und beichtete nun ihrerseits, dass sie gelogen hatte, weil der Vater sie so sehr mit Fragen bedrängt habe,
dass sie Angst bekommen und den Jungen lieber nicht erwähnt habe. Und außerdem sei der sowieso nur ein Schulfreund, dem sie Nachhilfe gab.
Die beiden lachten herzhaft über sich selber und suchten gemeinsam nach den dicksten Mehlwürmern, um dem Spatzen endlich seinen Lohn geben zu können.
"Die Mühle musst du allerdings alleine putzen", sagte die Tochter, "das ist die Strafe für dein Ausspionieren."
Obwohl dadurch die Vereinbarung mit dem Spatzen nun hinfällig geworden war, gab der Müller dem Spatzen dennoch immer mal etwas
Wasser und einige Mehlwürmer. Aber wesentlich weniger als vorher. Dennoch fiel ihm irgendwann auf, dass der Spatz immer fetter wurde.
Und er dachte so bei sich, dass der wohl doch ein besserer Mehlwurmfänger sei als er selbst.
Was der Müller nicht wusste, war, dass sich seine Tochter abends in die Mühle schlich, um dem Spatzen eine ordentliche
Portion Mehlwürmer zu suchen und sich von ihm erzählen zu lassen, was ihr Nachhilfeschüler alles so trieb, wenn sie nicht beieinander waren...
Copyright Text und Fotos: Susi Menzel
Eine Geschichte aus dem Buch "Mühlengeschichte(n)" ISBN: 9783752850673
Sie ist auch in dem Ebook "Windmühlengeschichten" von Susi Menzel und Gabi Hohmeyer enthalten
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