Als Gregor morgens die Haustür öffnete, war herrlicher Pulverschnee gefallen, und zwar eine ganze Menge.
Der Anblick war ungewohnt, denn es hatte ewig nicht geschneit. Er musste an den Tag denken, an dem er erstmals vor
Hellis Haus gestanden hatte. Damals hatte auch so viel Schnee gelegen. Er war sehr verwirrt und vollkommen orientierungslos
gewesen, wusste nicht, wer er war oder warum er überhaupt in der Gegend war. Es wurde vermutet, dass er überfallen worden sei.
Die Beulen an seinem Kopf und die zerrissene Kleidung sprächen dafür, hatte die Polizei damals gesagt. Deren Bemühungen,
etwas über ihn herauszufinden, verliefen ergebnislos, genau wie die von Helli. Sie hatte sich in der ganzen Zeit um ihn
gekümmert und sogar dafür gesorgt, dass er einen Personalausweis bekam, nachdem die vielen Versuche, sein Gedächtnis
wiederzuerlangen, ebenfalls erfolglos geblieben waren. Sie hatte von Anfang an gemeint, der Name Gregor passe aufgrund
seiner dunklen Haare und Augen perfekt zu ihm. Und da er in Minden gefunden worden war, wurde er zu Gregor Minden.
Helli und er hatten später geheiratet und sie waren glücklich. Bis auf diese Forderungen seines Unterbewusstseins,
die ihn oftmals quälten. Es war, als wollten die Erinnerungen von früher an die Oberfläche kommen, hatten es aber
in all den Jahren nie geschafft. Jene Zeit von vor acht Jahren war und blieb in seinem Gehirn eine graue,
undurchdringliche Masse. Völlige Amnesie, sagten die Ärzte. Manchmal bliebe sie dauerhaft.
Das alles war ihm durch den Kopf gegangen, als er den Schnee anschaute, der einige Zentimeter hoch auf dem Weg lag und
im Licht der Straßenlaterne glitzerte. Die Luft war frisch und kalt. Gerade als er den Schneeschieber in die Hand genommen
hatte, hörte er ein lautes Kratzen in der Ferne. Jemand war wohl auch früh aufgestanden, um seinen Eingang freizuschaufeln.
Gregor schaute den Schnee an, guckte seinen Schieber an, guckte wieder auf den Schnee. Und als er wieder das Kratzen des
Schiebers und das Geräusch eines Autos hörte, das sich durch die Straße quälte, immer wieder einmal wegrutschte und dabei
ebenfalls diese kratzenden Geräusche verursachte, da wurde ihm plötzlich klar, dass er gehen musste. Wohin? Er hatte keine
Ahnung. Nur los musste er – und zwar genau jetzt! Wie ferngesteuert stapfte er den Weg entlang auf die Straße und lief
einfach weiter. Helli und seine Kinder ließ er zurück. Er wusste, dass es falsch war. Aber er wusste auch, dass er
verrückt werden würde, wenn er jetzt nicht losging, um seine Vergangenheit zu suchen, die er an jenem Wintertag
vor acht Jahren genau hier verloren hatte. Seine Spuren führten vom Grundstück weg und verschwanden dann in den
Spurillen der Autos auf der Straße. Wenn es nicht weiter schneite, könnte Helli sie sehen. Sie würde traurig sein.
Aber irgendwann, wenn sie sich wiedersahen, würde sie es verstehen, so hoffte er wenigstens.
Einige Stunden später ging eine Frau die Straße entlang. Sie war schon viele Male in der Gegend gewesen. Vor acht Jahren hatte
sie einige Straßen weiter einen Autounfall gehabt. Das Auto war auf dem Glatteis weggerutscht und in einen entgegenkommenden Wagen
geknallt. Das kratzende Geräusch kurz vor dem Aufprall verfolgte sie immer noch. Es war die einzige Erinnerung, die sie an den
Unfall hatte. Einige Wochen lang hatte sie im Koma gelegen. Die Ärzte nannten es ein Wunder, dass sie überhaupt wieder aufgewacht
war. Die Polizei hatte damals herausgefunden, dass sie Katja Ahlisch hieß und zusammen mit ihrem Mann Peter in Bielefeld, einer
Stadt nahe Minden, gewohnt hatte. Sie fanden auch heraus, dass Peter seit dem Unfall verschwunden war. Katjas Gedächtnis war erst in
den letzten zwei Jahren nach und nach zurückgekehrt. Im Laufe der Zeit hatte sie viele Häuser in den Straßen rund um den Unfallort
abgeklappert und nach ihrem Mann gefragt. Aber niemand kannte seinen Namen. Auch auf dem Foto erkannte ihn niemand. Dieses alte
Jugendfoto war das einzige, was ihr von ihm geblieben war. Es hatte in ihrem Portemonnaie gesteckt, das sie bei sich hatte, als
sie ins Krankenhaus gefahren worden war. Da sie niemand zu vermissen schien, verlief die Suche nach ihrem Mann und eventuellen
Angehörigen irgendwann im Sande. Ihre Sachen aus ihrer alten Wohnung waren komplett vernichtet worden, weil sie sich natürlich
jahrelang nicht hatte melden können.
Der Schnee versetzte sie regelrecht in Panik, weil er sie an jenen Tag des Unfalls erinnerte. Dennoch wollte sie heute die
Häuser mit den Hausnummern 60 bis 70 dieser Straße aufsuchen, in der Hoffnung, doch noch irgendetwas über ihren Mann
in Erfahrung bringen zu können. Sie klingelte auch an Hellis Haus. Eine Freundin von Helli, die für einige Tage zu Besuch war,
öffnete die Tür. Sie kannte weder den Namen Peter Ahlisch noch erkannte sie ihn auf dem Foto.
Erst viel später, als Helli eine Vermisstenanzeige aufgab, fiel es der Freundin wieder ein, dass da eine Frau gewesen war,
die nach jemandem gesucht hatte, der hier vor Jahren einen Unfall gehabt hätte und seitdem verschwunden sei.
Sie erinnerte sich sogar an den Namen, den die Frau genannt hatte.
Und dann fügte sich alles zusammen. Gregor Minden war Peter Ahlisch, der mit Katja verheiratet war. Es dauerte,
bis die Polizei Katja ausfindig gemacht hatte. Sie war erfreut und enttäuscht zugleich. Er lebte, aber er lebte
mit einer anderen Frau und seinen Kindern zusammen. Aber auch die hatte keine lange glückliche Zeit mit ihm, denn
er war aufgebrochen, die Vergangenheit zu suchen. Ohne Abschied und ohne Ausweis oder andere Papiere, die seine
jetzige Identität hätten belegen können.
Die beiden Frauen suchten noch lange ergebnislos nach Gregor Minden und auch nach Peter Ahlisch, für den Fall, d
ass er sich doch einmal an seinen Geburtsnamen erinnern würde. Aber sie mussten irgendwann einsehen, dass sie
ohne ihn ihrer Wege würden gehen müssen.
Und dennoch nagte an jeder die Ungewissheit, was wohl wäre, wenn er wiederkäme…
© Susi Menzel, Februar 2021
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